Mehr als eine persönliche Geschichte

Von Laura TomassiniLex Kleren

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Der Jahreswechsel ist eine passende Gelegenheit, auf das Jahr zurückzublicken, das hinter uns liegt. Für das Journal-Team bedeutet das: zurückschauen auf mehr als 600 veröffentlichte Artikel und Podcasts sowie mindestens dreimal so viele geführte Interviews. Jedes Teammitglied hat den Beitrag ausgewählt, der ihn oder sie im Jahr 2023 am meisten geprägt hat.

Ich kenne Nina bereits seit Jahren, noch im Februar schickte sie mir ein Bild von einem Tattoo-Treffen 2016, bei dem ich sie zum ersten Mal persönlich traf. Nina, die stark tätowierte Coole mit mega Lockenmähne, ziemlich direkt, mit lauter, aber heller Stimme, tough aber gleichzeitig emotional. Ein Mama-Kind wie ich, allerdings in Soldatinnen-Montur und mit harter Linie, wenn es um die Beiträge in der von ihr gemanagten Facebook-Tattoo-Gruppe ging – so lernte ich sie damals kennen. Sie mochte Partys, lockere Abende unter Freund*innen und nahm kein Blatt vor den Mund, weder in ihren Posts, noch im realen Leben.

Irgendwann veränderte sich jedoch Ninas Auftreten in den sozialen Netzwerken: Die Beiträge wurden weniger, immer öfter postete sie Bilder aus Krankenhäusern oder mit Gehhilfen. Was los war, wusste keine*r wirklich, auch nicht sie selbst. Borreliose? Eine psychische Erkrankung? Jedenfalls lief Nina bei unserem ersten Treffen mit Krücken, hatte ständig Schmerzen und konnte ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen. Über ein Jahr dauerte es, bis man herausfand, was der damals 26-Jährigen fehlte: Sie war bei ihrem Urlaub in Ägypten von Wüstenläusen zerbissen worden und durch die Viren an einer extremen Form der Hirnhautentzündung erkrankt.

Die Behandlung erstreckte sich über zwei Jahre, in denen Nina vom Krankenhausbett in den Rollstuhl wanderte, von hiesigen Kliniken zu ausländischen Expert*innen und unzählige, schmerzvolle Lumbalpunktionen über sich ergehen lassen musste. Was ihr schließlich half, war ein Zerebralshunt, also ein kleiner Computer eingesetzt in ihrem Kopf, der die dort durch die Entzündung entstandene und konstanten Druck auslösende Flüssigkeit über einen Schlauch in ihre Leber abtransportiert und Nina wieder ein größtenteils normales Leben ermöglicht.

Ninas Geschichte hat mich nicht nur so stark berührt wegen der persönlichen Beziehung, die ich zu ihr pflege, sondern weil sie trotz allem, was ihr widerfahren ist, nie aufgegeben hat und heute mehr lebt, denn je. Ich habe den Artikel aber auch aus anderen Gründen gewählt: weil er von der Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter berichtet, die ohne diese heute nicht mehr hier wäre, und weil er aufweist, wie glücklich wir uns schätzen können, im Westen zu leben. Jedes Jahr sterben weltweit 300.000 Menschen an einer Hirnhautentzündung. In Luxemburg waren es "nur" fünf in den vergangenen zehn Jahren und Nina zählt mit ihren schweren Folgen zu einer Minderheit.

"Ich habe den Artikel aber auch aus anderen Gründen gewählt: weil er von der Liebe einer Mutter zu ihrer Tochter berichtet, die ohne diese heute nicht mehr hier wäre, und weil er aufweist, wie glücklich wir uns schätzen können, im Westen zu leben."

Erkrankt man jedoch in anderen, weniger medizinisch ausgestatteten Ländern an einer Meningitis, etwa im nach der Krankheit benannten Meningitis-Gürtel, der sich von Senegal bis nach Äthiopien quer durch Afrika zieht, stehen die Chancen auf Genesung schlechter, als hier. Ich habe den Artikel über Ninas Geschichte also gewählt, weil er auf zwei Ebenen von einem Schicksal erzählt: einmal auf einem persönlichen Level, der Mikroebene. Und einmal globaler gesehen, der Makroebene, die eine für uns meist kaum nennenswerte Krankheit in ein ganz anderes Licht rückt und der Beweis dafür ist, dass eben nicht alle dieselben Chancen im, aber auch auf Leben haben, als wir.

Ich widme diesen Jahresrückblick Nina, der jungen Powerfrau, die heute wieder jeden Tag über Insta-Stories mit ihrer Lebensfreude ansteckt, ihrer Mutter, die trotz Horror-Diagnosen ihre Tochter niemals aufgegeben hat, aber auch all jenen, die jeden Tag weltweit an einer Hirnhautentzündung erkranken und nicht wissen, ob sie morgen noch da sind, um ihre Geschichte zu erzählen. Nina erzählt ihre jedes Jahr, um dafür zu sensibilisieren, achtsam zu sein und das Leben nie als selbstverständlich zu sehen.

Nina Van Maris